Sowjetischer Arzt berichtet über seine Tätigkeit in der Krankenbaracke des Lagers
77 Männer auf der Krankenliste

Schwerte. Durchhalten und Widerstand - zwischen diesen Polen muß sich das Leben für die Häftlinge des Außenkommandos Schwerte bewegt haben. Während der ehemalige Werksleiter hierzu keine Angaben machen kann. kommen wichtige Hinweise aus einem Erlebnisbericht des sowjetischen Arztes Dr. Alexei Gurin in dem Buch ,,War behind barbed wire“ (Moskau 1958). Von einer Untergrund-Organisation unter den.Gefangenen des KZ Buchenwald wurde er in das AW Schwerte entsandt.
Der Westhofener Theologiestudent Georg Althaus, der sich eingehend mit der KZ-Thematik beschäftigt hat, hält ein solches Vorgehen für durchaus denkbar.“In Buchenwald wurden solche Transporte in der Regel von der Häftlings-Selbstverwaltung zusammengestellt. Außerdem war es dort schon möglich, die Identität von Häftlingen auszutauschen.“ Im Gegensatz etwa zum KZ Auschwitz waren nämlich die Häftlingsnummern nicht auf der Haut eintätowiert, sondern an Ketten festgehalten.
Den Kernpunkt für die Tätigkeit Dr. Gurins im Aunenkommando Schwerte bildet die Krankenbaracke des Lagers. Hier muß er sich heftiger Übergriffe von SS-Männern erwehren, in deren Augen die Patienten bloße Simulanten sind. Als er eines Tages provokativ 77 Männer, fast ein Fünftel des damaligen Häftlingsstandes, auf die Krankenliste setzt, erscheint der Kommandant fluchend mit einem deutschen ,,Arzt-Assistenten“, um die Angaben zu überprüfen. „Während ich.ihm meine Patienten zeigte, überschüttete ich ihn mit.lateinischen Ausdrücken und sah schnell, daß er nicht die leiseste Idee von dem hatte, was das meiste von ihnen bedeutete. Der Endeffekt seines Besuches war, daß er nicht einen einzigen Mann finden konnte, der ohne guten Grund auf die Krankenliste gesetzt war. Er empfahl dem Kommandanten, sich nicht einzumischen, auch wenn - er nickte in meine Richtung - der Doktor ein Bolschewik sei.“
Um die Reparatur der Lokomotiven zu verzögern, sollen die Häftlinge auch Sabotage ausgeübt haben, wobei die Rede ist von Manipulationen an Preßluftgeräten und Diebstahl des Materials für Kolbendichtungsringe. Besonders jedoch sticht den Buchenwaldern die Drehbank eines verhaßten Vorarbeiters ins Auge, die in einem unbewachten Augenblick durch Blockieren der beweglichen Teile zerstört wird. Während Dr. Gurin davon berichtet, daß „...der Nazi-Vorarbeiter der Sabotage angeklagt wurde und in ein KZ gesteckt wurde“, kann sich der frühere Werkdirektor Keppner an keine derartigen Sabotageakte erinnern:,,Die Leiter der Werksteile hätten mir das sonst gemeldet.“
Möglich, daß auch die Erinnerung eigene Taten glorifiziert. Jedenfalls ist es aber nicht zuletzt der Mut einzelner Häftlinge, der mithilft, den Überlebenswillen der Buchenwalder zu stärken. Dazu trägt besonders eine junge Russin bei, die als Dienstmädchen in einem Nazi-Haushalt heimlich Radio Moskau abhört. Die Nachrichten vom Vorrücken der Alliierten lassen bei den Häftlingen neue Hoffnung auf ein Ende der Sklaverei aufkeimen. Voller Sehnsucht singen sie heimlich Waisen der Heimat. Dr. Gurin:,,Ich erinnere mich an ein Lied, das von einem unbekannten Häftling geschrieben worden war und unter den Gefangenen unendlich beliebt war. Es hieß „Ein Brief an meine Mutter...“. Doch schöner als nur ein Brief wird für die Angehörigen die glückliche Rückkehr Dr. Gurins nach Kiew gewesen sein.