Mosaikstein zur Geschichte des Schwerter Konzentrationslagers / Bostel:
Erschrocken beim Anblick der vielen ausgemergelten Menschen

Schwerte. (rs) Vom Fenster aus sah sie die KZ-Häftlinge vorbeiziehen, konnte sogar mit einigen sprechen. Zu Mitgliedern der· SS-Wachmannschaft hatte sie - zwangsläufig - engeren Kontakt. Als Ruhr-Nachrichten-Leserin erfuhr die 68jährige Anni Bostel, die seit zwei Jahren bei ihrer Tochter in Paderborn lebt, von den Nachforschungen zur Geschichte des ehemaligen KZ-Außenkommandos Schwerte, denen sie aus ihren Erinnerungen ein weiteres Mosaiksteinchen hinzufügen kann.
In der elterlichen Wohnung im Bahnhof Schwerte-Ost verbrachte Anni Bostel die Kriegsjahre, nachdem ihr Ehemann Heinrich im August 1939 zur Panzertruppe einberufen wurde. Vater Wilhelm Temme war hier als Bahnhofsvorsteher beschäftigt. Eines Abends hielt er die Familie an, nicht aus dem Fenster zu schauen, da ein Zug mit 300 KZ-Häftlingen ankäme. Dennoch wagte Anni Bostel einen kurzen Blick:,,Da habe ich einen Schreck bekommen, als ich die vielen ausgemergelten Menschen sah."
Demgegenüber hätten jedoch die übrigen Häftlinge gut ernährt ausgesehen, die sie fast jeden Morgen beoabachten konnte, wenn sie unter Bewachung zum Einkaufen nach Schwerte marschierten. Bei einem Getränkeverlag holten sie dann einige Fässer billigen Biers, in einem Fischgeschaft Heringssalat und Konserven. ,,Die hatten wohl eine Art Kantine,“ vermutet Anni Bostel, denn der Blick von ihrem Fenster auf das Lagergelände war durch das AW-Verwaltungsgebäude verstellt.
Eines Tages begegnete sie jedoch mit einem Nachbarsjungen vor dem Haus einem solchen KZ-Einkaufskonmando. Als einer Cefangenen das achtjährige Kind irrtümlich mit ,,Na, Marie?“ ansprach, lachte der Junge laut auf, während Anni Bostel feststellte: ,,Die sprechen ja deutsch!“ Die Wachmannschaft bestätigte, daß die Häftlinge Deutsche seien. Es soll sich um einen Kapitän zur See und einen Fliegerleutnant gehandelt haben.,,Sie waren zwar in die gestreiften „Schlafanzüge“ gekleidet, trugen aber wohl ihre eigenen blanken Stiefel und sahen gut aus.“
Angst vor den Gefangenen hat Anni Bostel nie gehabt. Einmal wollte ein SS-Mann einen Häftling mit dem Zug wegbringen. Während der Bewacher noch etwas Vergessenes holen mußte, sollte sie auf dem Bahnsteig allein auf den Buchenwalder aufpassen.,,Ich fragte den Mann, einen russischen Zahnarzt, ob er Hunger hatte. Die Mutter hat mir dann ein Stück Brot für ihn heruntergeworfen.“ Auch aus dem Garten des Vaters wurden den Zwangsarbeitern, einerlei ob Kriegsgefangene oder KZ'ler, heimlich Kartoffeln oder Geüse zugesteckt.,,Das waren doch auch alles Menschen."
Die SS-Wachmannschaft setzte sich fast nur aus Ausländern zusammen. ,,Das waren Tschechen, Polen und Ungarn. Nur die drei oder vier Führer waren Deutsche.“ Einer davon wurde später mit seiner lungenkranken Frau in die frühere Wohnung der Bostels an der Schützenstraße 35 einquartiert, nachdem er im Rheinland aus- gebombt worden war. Von diesem SS-Mann erfuhr Anni Bostel auch erstmals von KZ-Toten. ,,In Buchenwald gehen sie dutzendweise die Ofenpfeife 'rauf und hier werde ich angepfiffen,“ kommentierte er einen Verweis, den er nach der Beschwerde eines Häftlings von vorgesetzter Stelle erhalten hatte. Mit Schlägen hatte er einem Russen verboten, sein Koppel zu tregen, auf dem Hammer und Sichel abgebildet waren.
Anni Bostel war über diese Äußerung umso mehr entsetzt, als ihr in Schwerte nur ein Gefangener bekannt war, der von einem Bahnpolizisten erschossen wurde. Ob es sich dabei jedoch um einen Buchenwalder oder einen Kriegsgsfangenen handelte, ist nicht klar. Während der Todesschütze später aus seinem Dienst entfernt worden sein soll, zahlte sich die Menschlichkeit der Bostels und Temmes nach Kriegsende aus. Ihre Wohnungen blieben von jeglichen P1ünderungsversuchen durch die plötzlich frei gewordenen Kriegsgefangenen verschont.